Moskau – der übliche Auftakt
Zwei Jungs statt zwei Mädels
Wir waren weniger als ein Jahr zuvor zum ersten Mal Eltern geworden und mussten unser Mädchen dringendst in der Mongolei herumzeigen. Meine Anwesenheit war dabei nicht wirklich vonnöten, weil sich die vielköpfige mongolische Familie auf unsere Kleine stürzen wollte und ich dabei nur gestört hätte.
Solongo und unsere kleine Soana reisten also etwas früher von Berlin nach Ulaanbaatar. Ich wollte zunächst drei Tage in Moskau verbringen, dann nach Irkutsk fliegen und von dort mit der Eisenbahn am Baikal entlang in die Mongolei fahren. Ein paar Tage mit der Familie und dann mit dem Zug nach Peking. Das war der Plan, den ich zusammen mit zwei guten Freunden ersonnen hatte.
Mit Jan war ich seit dem Abitur eng befreundet, was sich während unseres gemeinsamen Publizistik-Studiums nochmals verstärkte. Es sollte eigentlich keiner besonderen Erwähnung bedürfen, doch zum besseren Verständnis der folgenden Zeilen mag es beitragen, dass er schwul und ich hetero bin. Er hatte lange Jahre mit Dirk zusammengelebt, doch die Partnerschaft scheiterte irgendwann.
Dennoch blieben die Beiden eng befreundet und auch Solongo und ich hielten den Kontakt zu Dirk weiter aufrecht.
Gereist waren Solongo und ich schon mit beiden. Mit Jan fuhren wir in unserem Auto an die kroatische Adria und über Venedig und Tirol zurück nach Berlin. Alles sehr spontan mit Unterkunftssuche vor Ort. Wir hatten schöne, witzige, abenteuerliche und manchmal auch etwas sentimentale Momente.
Mit Dirk und dessen neuem Freund Kostas flogen wir zwei Jahre später nach Israel und Palästina. Kostas hatte lange Jahre als Musiker in Jerusalem gearbeitet und sprach hervorragend Hebräisch und etwas Arabisch. Auch diese Reise blieb unvergesslich.
Meine persönlichen Beziehungen sollen hier eigentlich nicht interessieren, weshalb dieser kurze Prolog nur als Hintergrundinformation dient und der Fokus der folgenden Zeilen „Land und Leuten“ gilt.
Erste Impressionen aus der größten europäischen Metropole
Es begann holprig, denn ich wartete am Moskauer Flughafen Domodedovo vergeblich auf meinen Koffer. Man machte mir wenig Hoffnung, dass sich das Problem innerhalb der nächsten drei Tage lösen würde. Die Chance war also groß, dass ich auf der gesamten Reise zum Baikal, in die Mongolei und weiter nach Peking ohne meine Habseligkeiten auskommen müsste.
Unsere Stimmung war ein wenig getrübt, doch immerhin gelangten wir mit Flughafenexpress und Metro recht schnell und sicher zu unserem Hotel. Das Vremena Goda lag nur wenige Meter vom Kreml entfernt und bot gemütliche Zimmer zu einem angemessenen Preis.
Der erste Tag begann früh, weil ich von einer Zweigstelle der russischen Eisenbahn unsere Zugtickets für Sibirien und die Mongolei abholen musste. Danach wollte ich mit den Jungs die klassische Tour zu den üblichen Sehenswürdigkeiten absolvieren, wobei sich allerdings schnell zeigte, dass sich unsere Tempi und Interessen stark voneinander unterschieden. Moskau war mir wichtig, weil ich es im Gegensatz zu Peking und Ulaanbaatar nicht kannte. Die einfache Antwort war, dass ich mir am folgenden Tag eine Auszeit nehmen und die Stadt auf eigene Faust erkunden wollte.
Ich ließ mich treiben. Von unserem Hotel zur Christ-Erlöser-Kirche, an der Moskwa entlang zum Monument für Peter den Großen, weiter durch den Gorki-Park zu den Sperlingsbergen und der dahinter liegenden Lomonossow-Universität.
Gorki-Park.
Der Gorki-Park ist vielbesungen und tatsächlich eine der wenigen Wohlfühloasen der Stadt. Ein wunderbares Ambiente voller Wasserspiele, Gärten, Pavillons und dem Ufer der Moskwa, an dem sich an den Abenden die Liebespaare treffen. Es gibt sie auch in Moskau nicht zu knapp – diese kuscheligen Ecken, die unbedingt einen Besuch lohnen. Im Großen und Ganzen aber ist die Stadt geprägt von riesigen Magistralen, an denen sich klobige, ockerfarbene Elfstöcker auftürmen. Wie mich Sankt Petersburg zwei Jahre zuvor noch schwer begeisterte, war ich vom Moskauer Stadtbild ein wenig enttäuscht – zumindest zunächst.
Hauptgebäude der Lomonossov-Universität.
Ein Highlight ist die stalinsche Zuckerbäckerarchitektur, deren wichtigstes Exempel das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität im Süden der Stadt ist. Monumental und dekorativ massiv überladen, war es bis in die späten 1980er Jahre das höchste Gebäude außerhalb Nordamerikas. Von den nahegelegenen Sperlingsbergen bot sich ein einzigartiges Panorama über die Moskwa und das seinerzeit noch im Bau befindliche Zentralstadion Lushniki bis in die Innenstadt. Von hier ließen sich auch die übrigen sechs der sogenannten sieben Schwestern erkennen – der Moskauer Paläste des sowjetischen Neoklassizismus.
Blick von den Sperlingsbergen auf die Stadt.
Auf dem Rückweg ging es mit Bus und Bahn zur Moskwa-Insel. Das Viertel südlich der Innenstadt rund um die Tretjakov-Galerie vermittelt noch am ehesten das Flair einer historisch gewachsenen europäischen Altstadt. Die beiden Jungs wollte ich auf dem Roten Platz wiedertreffen und da noch etwas Zeit war und offenbar kein Staatsbesuch anstand, versuchte ich den direkten Weg durch den Kreml. Der Besuchereingang war bislang immer verschlossen, doch dieses Mal drängelte sich eine mehrere hundert Meter lange Schlange an den Kassen. Ich wollte zumindest ein paar Informationen einholen, ging also vor in den Pavillon, wo ich zu meiner Überraschung gleich drei Ticketautomaten fand, die scheinbar niemanden interessierten, aber dennoch meine Kreditkarte akzeptierten und mir jegliche Warterei ersparten.
Der Kreml ist der Höhepunkt einer jeden Moskau-Reise. Das architektonische Ensemble kannte ich von den Feiern zu Putins Amtseinführungen. Wie er auf einem nicht enden wollenden roten Teppich durch die russische Juwelenpracht einsam von Kirche zu Kirche paradiert und endlich, nach der letzten Tür, begeistert von den Honoratioren des Landes im Kreml-Palast empfangen wird. Prächtige Bilder in einem eindrucksvollen Ambiente.
Große Teile des Areals können besichtigt werden und nur wenige Gebäude bleiben allein der Regierung vorbehalten. Von der Südmauer bietet sich ein schöner Blick auf die Moskwa und das gegenüberliegende Ufer. Der Ausgang führt direkt auf den Roten Platz, welcher wiederum von der Basilius-Kathedrale mit ihren Zwiebeltürmen, dem prachtvollen Staatskaufhaus GUM und dem Historischen Museum eingerahmt wird. In der Mitte liegt an der Kremlmauer ein kleiner marmorner Flachbau – das Lenin-Mausoleum. Hier wollten wir uns wieder zusammenfinden, was auch schnell klappte. Und weil die Schlange an diesem Tag nicht allzu lang war, sahen wir den ersten Toten auf unserer Reise – Wladimir Iljitsch Lenin. Zwei weitere würden folgen. Die Zahl der Wartenden sollte potentielle Besucher nicht abschrecken, weil man durch das Mausoleum lediglich durchgeführt wird, die Masse also stetig in Bewegung bleibt. Stehenbleiben, Fotos machen, Unterhaltungen – alles verboten, was zu einer schnellen Abfertigung beiträgt. Danach muss man sich unbedingt ein wenig Zeit für die Kremlmauer nehmen, wo sich die Gräber anderer Parteigrößen aus 74 Jahren Sowjetunion finden. Unter anderem jenes von Josef Stalin, dessen Körper dereinst neben Lenin ruhte, mit der Entstalinisierung unter Chruschtschow jedoch an die Kremlmauer umgebettet wurde.
Auf dem Roten Platz.
Frankreich vs. Portugal und die glückliche Wiederkunft meines Koffers
Am Abend wollte ich in irgendeiner Sportbar das Fußball-EM-Finale schauen. Ich würde das alleine tun, weil Dirk lieber die Moskauer Schwulenszene erkunden wollte. Es war auch mir verständlich, dass er sich das nicht allein traute und Jan um Begleitung bat. Staatlicherseits werden Clubs und auch private Treffen von Lesben und Schwulen in Russland zwar geduldet, in einem Klima von wachsendem Chauvinismus, Nationalismus und christlichem Fundamentalismus kommt es jedoch immer wieder zu Überfällen.
Es war gar nicht so einfach, eine gemütliche Lokalität in der Innenstadt zu finden, die das EM-Finale übertrug. In den Hinterhöfen des Twerskaya-Prospektes wurde ich endlich fündig. Ich kam ins Gespräch mit Maria und zweien ihrer Freunde. Sie hielt zu Lok und die anderen zum Armeeklub ZSKA. Die drei sorgten dafür, dass sich meine zunächst bestehenden Ängste vor etwaigen russischen Hooligans in Luft auflösten. Nach dem unerwarteten Triumph der portugiesischen Mannschaft zogen wir weiter Richtung Zentrum und fanden nicht weit vom Roten Platz eine Bar, die auch zu dieser späten Stunde noch Alkohol ausschenkte. Die Nacht wurde lang. Maria gab sich als überzeugte Putinistin, wurde schnell politisch und wollte mich provozieren. Ich ließ erkennen, dass ich die russische Außenpolitik zumindest in Teilen nachvollziehen könne, im Inneren aber doch einiges im Argen läge. Die Reisekonstellation mit Jan und Dirk fanden alle komisch, mit Homosexualität hatten sie aber kein Problem. Nach und nach diskutierten wir sämtliche Streitpunkte zwischen Russland und dem sogenannten Westen. Das hatte zwar geopolitisch keinerlei Relevanz, war aber mindestens eine erstklassige Russisch-Übung.
Jan und ich vor dem Kreml.
Für meine Rekonvaleszenz am folgenden Tag war es ganz gut, dass der Flieger nach Irkutsk erst am späten Abend abheben würde. Ich konnte ausschlafen und es blieb noch Zeit für einen letzten Stadtbummel. Dirk fühlte sich unpässlich und so erkundete ich mit Jan zusammen das Zentrum – inklusive der obligatorischen Bootsfahrt auf der Moskwa. Zurück im Hotel gabs eine freudige Überraschung. Mein Koffer war doch noch geliefert worden. Gerade rechtzeitig bevor wir mit U-Bahn und Schnellzug zum Flughafen Domodedowo aufbrachen. Auf dem Weg zum Baikal.
Noch ein paar Tipps zum Schluss
Vielleicht kann Moskau nicht mit Sankt Petersburg mithalten und auch nicht mit den großen europäischen Metropolen Paris, Rom oder London. Spannend ist die Stadt aber allemal. Keinesfalls sollte man an den Grenzen des flächenmäßig erstaunlich kleinen Zentrums Halt machen. Der Kreml ist natürlich ein prächtiges Ensemble, doch auch in der Peripherie finden sich bemerkenswerte Orte – die höchsten Wolkenkratzer Europas im Delovoy Zentr (Handelszentrum), die Lomonossov-Universität mit den nahegelegenen Sperlingsbergen und dem Lushniki-Stadion am anderen Ufer der Moskva, die allsowjetische Ausstellung VDNKh sowie der nicht weit davon entfernte Fernsehturm von Ostankino oder das Regierungsviertel im Westen des hippen Stadtteils Arbat.
Wenn etwas mehr Zeit ist, sollte man unbedingt auch einige Städte des Goldenen Rings besuchen, denn zwischen Moskau und der Wolga im Nordosten liegen einige der schönsten und historisch bedeutsamsten Orte ganz Russlands – Susdal, Uglitsch, Rostov Veliki, Sergijev Possad, Pereslavl-Salesski, Jaroslavl und Vladimir.
LGBTQ ist in Russland natürlich ein Problem. Es ist keineswegs ratsam, in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten auszutauschen, weil das recht schnell gefährlich werden kann. Ein geschärftes Bewusstsein und eine gewisse Vorsicht vorausgesetzt, muss man von einer Reise nach Russland aber auch nicht gänzlich Abstand nehmen. Gerade in Moskau wird man bald auf eine recht hohe Zahl äußerst liberaler Menschen treffen und die Liste von Lokalitäten für die LGBTQ-Gemeinde ist auch nicht gerade kurz. Die Einstellungen der Russen sind keineswegs so homogen, wie es in Mitteleuropa manchmal scheinen mag. Das Land ist in dieser Frage tief gespalten.