Wahnsinnstour in der vollbesetzten Marschrutka
Einfahrt in Darkhan und raus aus dem Waggon. Sie sahen uns, bevor wir sie sahen. Meine noch nicht einmal einjährige Tochter Soana saß auf einem Gepäckwagen und lächelte. Ich konnte mir die Tränen gerade noch verkneifen.
Die Familie war fast vollständig am Start. Meine Freundin Solongo, unsere gemeinsame Tochter, Bruder Tulga mit seiner Frau Lkhavaa, dem fünfjährigen Enerel und der kleinen Enkhjin, die wie Soana erst im vorherigen Sommer geboren worden war. Und natürlich die Mama. Schwester Uyanga fehlte mit ihrer Familie, doch wir sollten sie nach ein paar Tagen wiedertreffen.
Geplant war, dass wir den mongolischen Khovsgol-See ansteuern, dort zwei, drei Tage bleiben und zurück nach Ulaanbaatar fahren. Das war an sich schon ein ambitioniertes Unterfangen. Seit kurzem gab es zwar eine befestigte Straße, doch immerhin mussten pro Strecke knapp 900 Kilometer überwunden werden. Mit einem normalen Auto hätte das vielleicht klappen können, doch wir waren in einem Minibus unterwegs, einer Marschrutka, also jenen Sammeltaxis, die im gesamten postsowjetischen Raum und auch in der Mongolei ihren Anteil am Öffentlichen Personennahverkehr leisten. Die beiden Fahrer saßen vorn und die übrigen zehn Insassen machten es sich dahinter „gemütlich“. Ich saß auf einem Klappsitz neben meinen Freunden Jan und Dirk, die es vergleichsweise bequem hatten und halbwegs die Beine ausstrecken konnten. Der Kofferraum war bis zur Unterkante beladen. Meine mongolische Familie erzählte, dass sie allein von Ulaanbaatar nach Darkhan acht Stunden gebraucht hätten. Das verwunderte mich, weil sich die knapp 200 Kilometer normalerweise in der Hälfte der Zeit überwinden lassen. Den Grund dafür sollte ich bald kennenlernen. Der Ersatzfahrer war offenbar noch nicht lange im Geschäft. Es knarzte und knirschte jedes Mal gewaltig, wenn er an der Kupplung hantierte, was nicht nur dem Alter des Busses geschuldet war. Unsere Durchschnittsgeschwindigkeit lag irgendwo zwischen 60 und 70. In Darkhan waren wir gegen 22 Uhr losgefahren, den Khovsgol würden wir erst am Nachmittag des darauffolgenden Tages erreichen. Jan, Dirk und ich reisten nun zum dritten Mal durch die Nacht. Wir bemühten uns alle, ein wenig Schlaf zu finden, doch das war angesichts der widrigen Umstände nicht ganz einfach. Nach dem Sonnenaufgang entschädigte uns zumindest die Schönheit der Landschaft. Es hatte in diesem Sommer viel geregnet und der Bulgan-Aimak gehört ohnehin zu den grüneren Ecken der Mongolei. Das Tal der Selenge bildete eine liebliche Auenlandschaft, in der wir gerne etwas länger verweilt hätten. Doch wir mussten fahren, fahren und fahren. Frühstück aßen wir in einem kleinen Imbiss an der Straße. Im TV liefen Bilder vom Europa-Asien-Gipfel, der in diesem Jahr in Ulaanbaatar ausgetragen wurde und die größte internationale Veranstaltung war, die jemals in der Mongolei stattgefunden hatte. Bei Teigtaschen und Milchtee sahen wir Kanzlerin Merkel über den roten Teppich gehen. Das Plumpsklo lag jenseits einer Wiese, doch wir sollten auf den Hund Acht geben. Leicht gesagt.
Endlich wieder vereint. Soana und Solongo, Schwiegermama mit der Cousine Enkhjin und ich.
Am Nachmittag erreichten wir endlich das Aimak-Zentrum Mörön. Von dort waren es noch hundert Kilometer zum See. Kurz vor Khatgal zweigte eine Schotterstraße ab, die über einen trockengefallenen Fluss und einen Bergpass ans Ufer des Khovsgol führt. Hier fanden wir ein Jurtencamp und konnten endlich ausschnaufen.
Der Khovsgol ist der kleine Bruder des Baikal. Ebenfalls von Bergen umgeben, extrem alt und sehr tief, Teil des eurasischen Grabenbruchs, an dem unsere Kontinentalplatte in sehr, sehr ferner Zukunft auseinanderbrechen wird. Über das Tunkinsker Tal beträgt die Entfernung zwischen beiden Seen weniger als 300 Kilometer und auch die Wässer sind über Eg und Selenge miteinander verbunden. Von Baikalsk aus hätten wir mit dem Auto nur etwas mehr als vier Stunden bis ans Nordufer gebraucht. Immer strikt in Richtung Westen. Allerdings ist der Grenzübergang nur für Russen und Mongolen geöffnet. Zudem gibt es keine befestigten Straßen von dort an das Südufer. Die Fahrt über Ulan-Ude und Darkhan war also ein riesiger – allerdings unvermeidbarer – Umweg. Zuerst mit dem Zug und dann mit dem Minibus waren wir etwa 40 Stunden unterwegs. Die Einzigen, denen das nichts auszumachen schien, waren die drei Kinder an Bord. Der sechsjährige Enerel und die beiden Mädchen im Babyalter.
Am Khovsgol.
Der Khovsgol hat sich in den Sommermonaten zu einem Hauptreiseziel der Mongolen entwickelt. Nachdem die Straße zwischen Ulaanbaatar, Darkhan, Erdenet und Mörön vollständig asphaltiert wurde, kommen auch aus der Hauptstadt immer mehr Touristen. Angesichts der Abgeschiedenheit der Region war das Treiben am Seeufer erstaunlich lebendig und auch bei uns sollte sich die Laune bald bessern. Wir saßen am Strand, tranken Bier, das Wetter war fantastisch und das Wasser glasklar. Unsere kleine Tochter Soana würde demnächst ihre erste Nacht in einer mongolischen Jurte verbringen.
Fruchtbare Weiden am See.
Offroad durch die Khangai-Berge zum Weißen See von Tariat und zurück nach Ulaanbaatar
Nach einem wunderbaren Sommertag am Strand ging die Reise weiter. Der Fahrer unserer Marschrutka stammte aus der zentralmongolischen Provinz Arkhangai und wollte uns die Schönheiten seiner Heimat zeigen. Allerdings mussten dazu zwischen Mörön und Tariat mehr als 200 Kilometer offroad bewältigt werden. Ich fand die Idee nett, wandte aber ein, dass wir angesichts unseres klapprigen Gefährts und der fast tausend Kilometer zwischen uns und Ulaanbaatar lieber auf ausgetretenen Pfaden bleiben sollten. Schließlich könnten wir auch in der auenlandhaften Bulgan-Provinz ein schönes Quartier beziehen und würden damit etliche Stunden Fahrzeit sparen. Leider wurde ich überstimmt.
Wir würden also atemberauende Landschaften sehen, uns aber erneut über alle Maße quälen. Anfangs ließen wir uns etwas Zeit und passierten gleich hinter dem Khovsgol in den Bergen des Ostsajan ein Lager der Tsataan, der letzten Rentiernomaden der Mongolei.
Bei den Rentiernomaden der Tsataan.
Weiter in den Khangai-Bergen veranstalteten wir ein opulentes Picknick mitten in unendlichen Wiesen voller Edelweiß. Dirk, meinte dass er noch nie zuvor eine solche Pracht erblickt hätte. Jan und mir ging es ähnlich, doch wir mussten weiter Meter machen. Stunde um Stunde mühte sich die Marschrutka durch die Berge des Khangai-Gebirges. Bei der Siedlung Jargalant erreichten wir das Tal der Ider, des längsten Quellflusses der Selenge. Es dämmerte schon und wir hätten liebend gerne ein nicht weit entfernt gelegenes Jurtencamp an einer heißen Quelle bezogen, doch wir mussten weiter zum Weißen See von Tariat, wo Solongos Schwester samt Familie auf uns wartete. Um 22 Uhr kamen wir endlich auf eine asphaltierte Straße, die wir noch 150 weitere Kilometer entlangfuhren, bis wir endlich das Camp erreichten. Es war schon nach Mitternacht und unsere kleine Stichprobe hatte erwiesen, dass Mongolen mit derlei Reisestrapazen deutlich entspannter umgehen, als mittelalte deutsche Männer.
In den Khangai-Bergen.
Der Terkhiin Tsagaan Nuur (Weißer See von Terkhi) ist etwa 16 km lang, fünf km breit und Teil des Khorgo-Terkhiin-Tsagaan-Nuur-Nationalparks.
„Sieh mal dort ein weißer See“, soll ein Riese ausgerufen haben, nachdem er ein Stück Land in Richtung des brodelnden Khorgo-Vulkans warf und nun den Ort betrachtete, von dem er sein Wurfgeschoss entnommen hatte. Einer anderen Legende zufolge hätte ein älteres Pärchen vergessen, seinen Brunnen abzudecken, der dann überlief und das gesamte Tal überschwemmte. Erst ein großer Held konnte mit seinem Bogen ein Stück Fels von einem naheliegenden Berg abschießen – und zwar so, dass es sich wie ein Stöpsel in den Brunnen bohrte und nunmehr als kleine Insel im Westteil des Sees (Chandmani Tolgoi) fortbesteht. Deutlich wahrscheinlicher ist allerdings, dass bei einem Vulkanausbruch vor knapp 8.000 Jahren Lavaströme einen Fluss aufstauten und der ansteigende Wasserspiegel einen Teil der Ebene ausfüllte.
Der Weiße See von Tariat.
Am nächsten Morgen war nicht viel Zeit für die Schönheiten des Nationalparks. Ein kurzes Bad dort, wo eine lange Reihe pittoresker Basaltsäulen in den See hineinragt und dann quetschten wir uns wieder in die Marschrutka.
Die erste Atrraktion war nicht allzu weit, denn der Khorgo-Vulkan lag nur wenige hundert Meter entfernt. Kein Vulkan im üblichen Sinne, sondern vielmehr ein weites, recht ebenes Vulkanfeld, aus dem der eigentliche Krater nur einige Meter emporragt. Eine Besteigung ist nicht sonderlich anstrengend und von oben bietet sich ein eindrucksvoller Blick einerseits in den Schlund und andererseits über die weite vulkanische Ebene.
Das Khorgo-Vulkanfeld.
Unsere Tour durch Arkhangai führte uns noch an den Canyon des Suman-Flusses sowie an den einsamen Teel-Felsen. Äußerst gehaltvolle Khoshuur (gebratene Teigtaschen) sollten uns Kraft geben für das, was noch ausstand.
Am Teel-Felsen.
Die Landschaft von Arkhangai lässt sich geradezu klischeehaft mit den endlosen grünen Wellentälern beschreiben, die man gemeinhin mit der Mongolei assoziiert. Die Hauptstadt Tsetserleg hat das mildeste Klima des ganzen Landes, weshalb hier auch Landwirtschaft betrieben wird. Schön, aber noch immer 500 Kilometer von Ulaanbaatar entfernt. Immerhin saß nun der richtige Fahrer am Steuer und holte aus dem Bus raus, was möglich war. Das waren dann immerhin 90 bis hundert Stundenkilometer und nicht 60 bis 70 wie zuvor. Ulaanbaatar erreichten wir erst im Morgengrauen. Jan und Dirk wurden bei Schwiegermama einquartiert, während unsere nun wiedervereinte Kleinfamilie die Wohnung des Bruders unserer gemeinsamen besten Freundin Munkhtsetseg nutzen durfte.
Noch ein paar Tipps zum Schluss
Die Region rund um den Khovsgol-See ist eine der schönsten überhaupt in der Mongolei, doch die Anreise ist weit. Von Ulaanbaatar aus sind es knapp 900 Kilometer. Die Straße ist zwar mittlerweile asphaltiert, aber noch lange keine Autobahn.
Man sollte sich vom extremen Optimismus der Mongolen nicht täuschen lassen. Die mögen das ohne mit der Wimper zu zucken in einem Rutsch durchfahren, doch eine ausgeprägte Resilienz gegenüber Reisestrapazen ist bei diesem Nomadenvolk inmitten karger Weiten vermutlich schon kulturell angelegt. Der normale Mitteleuropäer wird das anders empfinden, wiewohl sie oder er auch ein gewisses Maß an Duldsamkeit mitbringen sollte, denn die Mongolei ist nicht Südfrankreich.
Infrastrukturell hat sich in den vergangenen Jahren zwar Einiges gebessert, doch es fehlt noch immer vollständig an Verbindungsachsen zwischen den verschiedenen peripheren Mittelzentren. Sämtliche asphaltierte Strecken gehen sternförmig von Ulaanbaatar aus. Will man also einen Kreis befahren, muss man mindestens einmal einen langen Offroad-Abschnitt in Kauf nehmen. Das kann sogar großen Spaß machen, exotisch, abenteuerlich und gemütlich zugleich sein, doch man sollte im Voraus genauestens kalkulieren. Und man tut dies bestenfalls selbst, denn die Mongolen setzen in der Regel andere Standards und Prämissen.
Viel mehr als 25 Kilometer in der Stunde sind nicht drin. Hat man kein eigenes Zelt dabei, sollte man wissen, welche Jurtencamps am Wegesrand liegen. Selbstverständlich sollte stets für ausreichend Proviant, Wasser, Benzin und Ersatzteile gesorgt sein. Andererseits wird einem im schlimmsten Fall aber auch geholfen werden, denn die Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Nomaden kennt nur wenige Grenzen.