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Ostwärts Reisen

Einmal rund um die Ostsee

Es war unsere letzte Reise zu zweit. „Wir“ waren endlich schwanger. Vor der Geburt unserer kleinen Soana sollte es noch einmal rund um die Ostsee gehen. Mit unserem Skoda an der polnischen Küste entlang, durch die russische Enklave Kaliningrad und die drei baltischen Staaten, weiter mit der Autofähre nach Helsinki, dann bis Turku und von dort mit einer weiteren Fähre nach Stockholm, durch den Süden Schwedens auf die Rügenfähre und zurück nach Berlin.

Mit dem Auto ins Blaue hineinzufahren, hatte uns als Reisekonzept zum ersten Mal an der US-amerikanischen Westküste überzeugt. Das ist allerdings das Autoland schlechthin und lässt sich in dieser Hinsicht kaum mit Europa vergleichen. Zudem waren wir ja nun fast zu dritt, wollten die Risiken minimieren, buchten die Unterkünfte also bereits im Voraus und wussten entsprechend, wann wir wo zu sein hatten.

Mit dem Skoda gings von Berlin in die Dünenlandschaft rund um das hinterpommersche Städtchen Łeba und weiter ins wunderschöne Danzig. Kurz dahinter begann schon die Post-Sowjetunion und um die soll es hier gehen.

Der verflixte Verlängerungsstempel in Solongos Reisepass

Wir fuhren mal wieder nach Russland. In ein sehr kleines Stück Russland mit einer langen deutschen Geschichte. Mongolen reisen ohnehin visafrei, speziell für Deutsche bestand seit einigen Jahren die Möglichkeit, mit einem Transitvisum für 72 Stunden die Kaliningradskaya Oblast bzw. das Königsberger Gebiet zu durchqueren. Man musste also nicht mehr knapp hundert Euro investieren, eine Einladung samt Reisebestätigung organisieren und sämtliche Zielorte darlegen, sondern bräuchte sich per E-Mail nur kurz anmelden und würde – gegen eine geringe Bearbeitungsgebühr – direkt an der Grenze ein Visum in den Pass gestempelt bekommen.

Soweit zur Theorie. Natürlich hatte ich mich ordentlich vorbereitet, doch der erste Fehler war die Wahl des Grenzübergangs. Ich hielt es für klug, den weniger frequentierten Ort Mamonovo (Heiligenbeil) anzusteuern und eben nicht die große Trasse in Richtung Nowosjolowo (Groß Rödersdorf). Die Dame vom russischen Visabüro in der Kaliningradskaya Oblast hatte mich zuvor wissen lassen, dass es egal sei, wo wir die Grenze erreichten. Dem war auch so, jedoch musste der betreffende Beamte zunächst von seinem Übergang an den unsrigen reisen, was seine Zeit dauerte. Offenbar konnte es nur einer tun.

Als das irgendwann überstanden und auch die Einfuhr des Autos geklärt war, wurde meine Freundin nach ihrem Reisepass gefragt. Das war bislang an jeder Grenze, an jedem Flughafen, ein Moment höchster Spannung. Man wird aus der Reihe gebeten und aufgefordert, ein wenig zu warten. Die Beamten verlassen ihren Platz, schließen sich mit Kollegen kurz und halten Rücksprache am Telefon. In der Regel dürfen wir dann irgendwann passieren, doch wir wurden auch schon abgewiesen. Für Kanada wurde Solongo aus unverständlichen Gründen das Visum verweigert, weshalb wir uns erst in Seattle wiedertreffen konnten. Und in Gibraltar einige Jahre später mussten wir sie in einem Hotel auf der spanischen Seite „parken“, weil unsere mittlerweile geborene Tochter und ich mindestens für eine Nacht den Felsen mit seinen Affen bestaunen wollten. Mit einem Schengenvisum hätte Solongo die britische Kronkolonie bereisen können, nicht jedoch mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Das versteht niemand und war besonders ärgerlich, weil uns die Grenzpassage im Voraus per E-Mail und Telefon ausdrücklich zugesichert wurde.

Kurzum: Bei Reisen mit Mongolen lernt man Demut und Dankbarkeit für die Privilegien des deutschen Passes. Solongo hätte schon längst die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen können, wenn sie sich damit nicht auch Rechte in der Mongolei vergeben würde, etwa jenes auf Grunderwerb. Eine doppelte Staatsbürgerschaft lässt die mongolische Seite nicht zu und so besteht der Status Quo bis heute fort, reist die Ungewissheit mit. Immerhin jedoch brauchen Mongolen im Gegensatz zu Deutschen kein Visum für ihre beiden Nachbarländer Russland und China. Das galt auch hier weit weg von Ulaanbaatar am Eingang zur Kaliningradskaya Oblast. Doch erstens werden mongolische Reisedokumente gerne gefälscht und zweitens war Solongo vermutlich die erste Mongolin, die genau hier nach Russland einreisen wollte. Und obendrauf kam der Umstand, dass Solongos Pass eigentlich schon abgelaufen war, aber einen Verlängerungsstempel der mongolischen Botschaft in Berlin trug. Den hatte man hier noch nie gesehen, was uns insgesamt drei Stunden kostete. Kopien wurden angerfertigt und Rücksprache mit Moskau gehalten. Unsere Laune näherte sich dem Gefrierpunkt und erst nachdem wir richtig Luft abgelassen hatten, durften wir endlich passieren.

Der recht verlassen wirkende, restaurierte Dom von Königsberg…

und

…das neue Zentrum der heutigen russischen Stadt Kaliningrad rund um die orthodoxe Kathedrale.

Königsberg mit seinen derzeit 450.000 Einwohnern ist in den vergangenen 70 Jahren zu einer typischen sowjetischen Großstadt mutiert. Der Krieg hatte nicht viel übriggelassen, doch immerhin wurde der alte evangelische Dom mit dem Grabmal Hermann Kants wiederaufgebaut. Er liegt heute ziemlich verlassen außerhalb des neuen Zentrums in einem leeren Park unterhalb einer Schnellstraße. Nicht weit entfernt finden sich entlang der Pregel-Promenade einige wenige verbliebene Patrizierhäuser. Ansonsten hat sich das Zentrum komplett in Richtung Norden verschoben, gliedert sich rund um die 2009 eingeweihte, orthodoxe Christ-Erlöser-Kathedrale. Hier ähnelt die Stadt eher Ulaanbaatar als irgendeiner hanseatischen Metropole. Das kann man für gut halten oder auch nicht, wir fanden es in erster Linie spannend – eine krude Mischung aus den letzten Resten norddeutscher Backsteingotik, allerlei militärischen Einrichtungen und dem spröden Charme einer sowjetischen Provinzstadt.

Wir latschten alles ab. Von der Kathedrale durch einen langgezogenen Grüngürtel zum Siegespark und in der anderen Richtung zum Park der Jugend mit seinen künstlichen Seen. Richtig atemberaubend war das nicht, doch immerhin fühlten wir uns wohl. Unser Hotel lag zwischen zwei Schnellstraßen und dem Pregelufer, war funktional eingerichtet und sauber. Den Abend verbrachten wir an der Pregelpromenade mit „Klopsy Kjenigsbergskiye“ und russischem Bier.

Am nächsten Morgen verließen wir die Stadt in Richtung Norden. Spannend war, dass wir das erste Mal eine russische Tankstelle frequentierten. Man zahlt im Voraus für eine bestimmte Menge Benzin und legt erst dann den Schlauch an. Die Preise waren erstaunlich niedrig, lagen bei umgerechnet 50 Cent pro Liter Super-Benzin.

Selonogradsk, das ehemalige Seebad Cranz, bildet den Zugang zur Kurischen Nehrung. Man erkennt da und dort noch die Pracht der alten Bäderarchitektur, doch insgesamt strahlt auch dieser Ort einen vornehmlich russischen Charme aus. Wir besuchten die unvermeidliche Seebrücke am Ostseestrand, doch schon bald zog es uns weiter auf die Nehrung. Auf diesen Teil der Reise hatten wir uns besonders gefreut. Die mit knapp hundert Kilometern längste Halbinsel der Ostsee schließt das Kurische Haff von der offenen Ostsee ab und ist heute ziemlich genau in der Mitte durch die Grenze zwischen Russland und Litauen geteilt. Vor etwas mehr als hundert Jahren zählte die Nehrung zu den Sehnsuchtsorten im Deutschen Reich. Mit unberührter Natur, tiefen Wäldern, weiten Stränden, einsamen Fischerorten und scheinbar unendlichen Dünenlandschaften. Vollkommen zurecht taucht sie seit dem Jahr 2000 auch in der Liste des UNESCO-Welterbes auf. Auf russischer Seite besuchten wir ein kleines Freilichtmuseum im Dorf Lesnoi (Sarkau) und bestaunten den Tanzenden Wald kurz hinter Rybatschi (Rossitten). Bei der Vogelwarte Fringilla sprang ich zum ersten Mal in die Fluten der Ostsee, was mir angesichts der noch recht frischen Frühlingszeit die Bewunderung der anwesenden Russen einbrachte.

Der „tanzende Wald“ auf der russischen Seite der Kurischen Nehrung.

Dünenlandschaften kurz vor der litauischen Grenze.

50 Kilometer hinter Selenogradsk (Cranz) erreichten wir die litauische Grenze. Es würde schon keine Probleme geben. Schließlich wollten wir nur wieder zurück nach Hause in den Schengenraum. Wir täuschten uns. Wieder bot der verflixte Verlängerungsstempel den Anlass für etliche Konferenzen, Rücksprachen und Vergewisserungen. Die reine Wartezeit in der Autoschlange wäre eigentlich marginal gewesen, doch wir wurden zur Seite gebeten und standen dort Stunden. Die Grenzer waren eigentlich ganz nett und ertrugen geduldig meine langsame Kernschmelze. Bald würde die Sonne untergehen und wir würden die Vermieter unserer Ferienwohnung im Dorf Nida (Nidden) auf der litauischen Seite nicht mehr treffen…

Irgendwann erbarmte sich einer der Beamten und ließ uns gegen alle Regeln wenigstens kurz die Füße bei einer Zigarette vertreten. Für russische Posten eine bemerkenswerte Nonchalance. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte mir, wie sich das Leben in der Oblast mit dem plötzlichen Inseldasein verändert hatte. Zu sowjetischen Zeiten sei das hier ein ganz normaler Landesteil gewesen, nun aber eine rückständige Exklave inmitten der Europäischen Union. Seine Verwandten wären im gesamten Baltikum verteilt und bräuchten nun etliche Formulare für gegenseitige Besuche. Meine Wut könne er verstehen. Schließlich neigten die Russen zu einer überbordenden Bürokratie und vermutlich hätte ich als EU-Bürger ohnehin längst vergessen, wie eine richtige Grenze aussieht. Andererseits gebe es aber auch deutlich schlimmere Schicksale und sicher würde bald alles gut werden.

Der Mann hatte Recht – mit jedem seiner Worte – und tatsächlich kam bald aus Moskau die Freigabe. Sie waren so weit gegangen, die mongolische Botschaft in Berlin zu kontaktieren, was ich ein wenig übertrieben fand für ein junges Pärchen, das eigentlich nur ins heimische Schengen wollte.

Die Gültigkeit von Solongos Pass hätte die Litauer auf der anderen Seite viel mehr kümmern müssen, doch die winkten uns ohne Umschweife durch.

Der liebe Vytautas und die litauische Küste

Wir waren nach zehn Minuten fertig. Hinter uns in der Autoschlange stand ein freundlicher Herr mittleren Alters. Der Akku auf beiden unserer Handys war erloschen und wir baten ihn in unserer Verzweiflung, mit seinem Telefon unsere Ferienwohnung im nahegelegenen Nida (Nidden) zu kontaktieren. Vytautas hieß der Mann. Er erreichte gleich jemanden, klärte alles ab, fuhr in seinem Auto vor, wies uns also den Weg und besprach die wichtigsten Details mit dem Nachbarjungen, der zu unserem Empfang vorbeigeschickt worden war.

Vytautas mochte uns. Das merkte man. Und er hatte etwas Zeit. Wir könnten doch noch kurz durchs Dorf zum Hafen spazieren und danach was essen. Er führte uns in ein typisch litauisches Restaurant. Ich erinnere mich an eine kalte Vorsuppe, einen schmackhaften Wildbraten mit Pilzen und leckeres litauisches Bier – alles auf Vytautas‘ Empfehlung. Am Ende würden wir alle drei zusammen nicht mehr als 20 Euro bezahlen, doch für all seine Dienste wollte er nicht einmal ein Bier spendiert bekommen. Er war einfach nur nett und genoss vermutlich unseren Austausch. Das war es, was uns zwischen Berlin und Wladiwostok besonders gefiel. Die Menschen sind in der Mehrzahl zurückhaltend, aber offen, ehrlich neugierig, aber nicht penetrant und oft sehr herzlich. Ich weiß nicht warum, doch irgendwie sollte die mongolisch-deutsche Kombination aus Solongo und mir auch bei späteren Reisen immer wieder für etwas Aufsehen sorgen. Russisch war natürlich eine riesige Hilfe.

Endloser Strandsand.

In Nidden muss man das Ferienhaus Thomas Manns besichtigen, in dem heute ein kleines Museum untergebracht ist. Ansonsten erstreckt sich südlich des Ortes in Richtung der russischen Grenze eine riesige Dünenlandschaft, deren anderes Ende wir bereits am Tag zuvor auf russischer Seite besucht hatten. Dann ging es weiter mit dem Skoda Richtung Norden. Wir stoppten ein-, zweimal für Fotos an nicht enden wollenden Wellentälern aus Strandsand, badeten bei Juodkrante (Schwarzort) in der offenen Ostsee und strebten ansonsten der Fähre nach Klaipeda (Memel) zu. Die Memel ist der wichtigste Zufluss des Kurischen Haffs, welches bei der gleichnamigen Stadt in die offene Ostsee übergeht. Die Fährfahrt von der Nordspitze der Nehrung bis nach Memel dauert nur wenige Minuten. Für die Stadt hatten wir leider keine Zeit, was nicht so schlimm war, weil auch hier Vieles dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen war.

Wir mussten weiter zum Badeort Palanga im Norden Litauens. Ein kleines Ferienparadies, mit gepflegtem Strand, der nach stürmischen Nächten ertragreich für Bernsteinsucher ist. Eine lange Promenade führt entlang eines kleinen Bachlaufes zur Ortsmitte und ist gesäumt von zahlreichen Bars und Restaurants. Im Süden Palangas findet sich der weitläufige Botanische Garten mit dem ehemaligen Fürstenschloss in seiner Mitte. Heute ist dort ein Bernsteinmuseum eingerichtet, welches weltweit zu den hervorragendsten seiner Zunft gehört und fantastische Exponate zu bieten hat.

Die Preise sind fast schon unangenehm niedrig. Gerade für Familien ist Palanga ein perfekter Ort, wiewohl man sich an der mittleren Ostsee befindet und keine mediterranen Wetterlagen erwarten sollte.

Wir hatten uns geschworen mit unserer kleinen Tochter (das Geschlecht kannten wir zu diesem Zeitpunkt schon) unbedingt noch einmal wiederzukommen. Einstweilen wollten wir jedoch weiter nach Lettland.

Park und im Hintergrund das Bernsteinmuseum von Palanga.

Noch ein paar Tipps zum Schluss

Grenzen sind fast überall in der ehemaligen Sowjetunion keine so einfache Hürde. Hier zeigt sich das Erbe von Militarismus und überbordender Bürokratie. Eigentlich stellt die Kaliningradskaya Oblast mit ihrer recht flexiblen (Transfer)Visa-Regelung eine löbliche Ausnahme dar. Dass es dennoch derart gravierende Probleme geben kann, zeigt, was anderswo zum Alltag gehört. Wartezeiten werden in der Regel in Stunden bemessen, was allzu ungeduldige Europäer aus der Fassung bringen kann, Einheimische aber eher kalt lässt.

Schon die Visabeschaffung ist ein langwieriger Prozess. Es braucht eine Einladung und eine Reisebestätigung eines in Russland registrierten Veranstalters. Beides kostet Geld, sodass es sich meines Erachtens nicht lohnt, das Visum direkt beim Konsulat zu beantragen. Man wird mit den Visa-Kosten (mehr als 70 Euro für ein einfaches Touristenvisum) sowie jenen für die Ausstellung der besagten Dokumente (jeweils zehn bis 25 Euro) nicht weniger zahlen als für eine Visa-Agentur, wird dafür aber sehr viel größere bürokratische Mühen auf sich laden.

An der Grenze sollte man höflich bleiben, sich aber auch seiner Rechte bewusst sein. Im Hinblick auf die Reiseapotheke ist unbedingt darauf zu achten, dass keine Kodeine mitgeführt werden. Derartige Medikamente sind illegal in Russland und fast allen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

In Russland wird man kaum zur Zahlung von Schmiergeldern aufgefordert werden, an einigen zentralasiatischen Grenzposten kann dies vereinzelt jedoch noch immer vorkommen.

Eine Besonderheit in Russland sind die teilweise umfangreichen Grenzzonen, die ohne besondere Genehmigung nicht betreten werden dürfen. Diese Vorschrift entfällt nur, wenn man auf direktem Wege Russland in Richtung eines seiner Nachbarstaaten verlässt.

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